Seiltänzer in Alt-Annaberg.

Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 25, 20. Juni 1926, S. 7

Vom Kirchturm zum Rathausturm.

Die alte Zunft der Seiltänzer, welche ehedem von Stadt zu Stadt, von Land zu Land zog, ist aus dem öffentlichen Leben des 20. Jahrhunderts fast ganz verschwunden. Die Aristokratie der Seiltänzer ist in das Varieté der Großstädte gegangen. Nur dann und wann führt ein kleiner Wanderzirkus, der in den Dörfern seine Kunst produziert, Seiltänzer mit sich. Vor 1900 sah man noch Reste jener alten Kunst, die vorzugsweise auf den Marktplätzen ihr Seil spannte und mit einer mächtigen Balancierstange zum Staunen eines pp. Publikums schwindelfrei in luftiger Höhe spazieren ging.

Eine in der Mitte des vorigen Jahrhunderts berühmte Seiltänzerfamilie waren die Kolters. Mitglieder dieser Familie, die Gebrüder Kolter, spannten 1835 über den Annaberger Marktplatz ihr Seil von der südlichen Häuserecke bis hinauf zum Glockenstuhl des Rathauses. Unerhörtes glaubte man damals gesehen zu haben und doch war diese Leistung schon vor Jahrhunderten in Annaberg selbst überboten worden.

Die Chroniken von Jenisius (2. Teil S. 27) und Arnold (S. 181) berichten:

„Im Jahre 1545, Ferodinus von Venedig gehet vom Kirchtumsknopf bis uffn Markt auffen Seile und übet dabei viel Gaukelwerks”.

Das kann nicht anders verstanden werden, als daß das Seil vom Kirchturm zum Rathausturm gespannt war, weil die Neigung nach einem Hause am Markte zu steil gewesen sein würde. Die Leistung Ferodinus würde auch in unserer Zeit der Sensationen einen Nervenkitzel seltenster Art darstellen.