Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt Nr. 20, 132. Jahrgang, 14. Mai 1939, S. 1-2.
Plaudereien von Johannes Blochberger.
(3. Fortsetzung.)
Liebes Sehma!
Du bist mir eigentlich schon lange bekannt. Einer meiner besten Freunde aus der Großstadt ist aus dir gebürtig und hat mir oft von dir erzählt. Was er sagte? Er hat dich selbstverständlich gelobt. Und das bis du ja auch wert. Als ich an einem Februarabend jetzt vor dem Leuchten deines wirklich hübschen WHW-Males stand und von allen Seiten die Arbeit von Hunderten von Maschinen aus hellen Fabriken summte, da wußte ich, daß mir dein Bürgermeister gewiß allerhand Interessantes zu erzählen haben würde. Von dir. Ich ging zu ihm in dein schönes Rathaus, das er mir im Laufe angeregter Unterhaltung in seiner alten Form im Bilde zeigte. Da muß man staunend bekennen, daß mit der Umgestaltung aus landfremden Stil in ein heimatgebundenes Haus 1937 etwas ganz Vorzügliches geschaffen worden ist. 4000 fleißige Einwohner zählst du und bei 800 Hektar Gemeindefläche verfügst du über 115 an eignem Wald. Das ist ein guter Anteil und dabei rücken dir die Staatsforstreviere auch noch ganz nahe auf den Pelz. Drei Kilometer bis du lang und, obwohl in dir alle möglichen Industrien ausgezeichnet entwickelt sind, führst du zwei Sensenblätter im Siegel. Deine ersten Bewohner dürften also wohl Bergbauern gewesen sein. Das werden wir noch ganz genau lesen können, wenn Schuldirektor a. D. Friedrich Mahn deine Geschichte fertig hat. Ein Spinnwerk zur Veredelung der Kunstseide beschäftigt allein etwa 1200 Menschen. Die Posamentenherstellung geht auch wieder besser. Wellpappen, Knöpfe und Holzwaren (Möbelverzierungen) werden innerhalb deiner Gemarkung angefertigt und es ist bemerkenswert, daß 40 Prozent aller in deinen Industrien Schaffenden, vor allem weibliche Arbeitskräfte, aus der ganzen Umgebung zu dir hereinkommen. Da du neben 15 kleineren landwirtschaftlichen Betrieben über 40 Erbhöfe verfügst, ist das Zeichen ihrer Arbeit im Gemeindesiegel noch immer berechtigt. Man könnte sich aber sehr wohl einmal eine Ergänzung durch eine Kunstseidenspule denken. Das wäre gerecht. Daß du, liebes Sehma, auch über eine gemütliche und tüchtige Feierabendschar verfügst, die lebhaft schnitzt und daß sie es war, die eine der ersten Schnitzausstellungen im mittleren Erzgebirge aufzog, vernehme ich mit besonderer Freude. Ich komme vielleicht bald wieder zu dir. Den Maler Gerhard Löser, der als guter Schnitzer und vorzüglicher Sänger bekannt ist, will ich besuchen. Und dann möchte ich etwas mehr wissen von einer historischen Stätte auf deiner Bergflur voll Frische und Schönheit, von der sogenannten Schwedenkiefer … Bis zum freudvollen Wiedersehen grüße ich dich als ein Mensch, der dich liebgewonnen hat. Liebe auf den ersten Blick! Da ist halt nichts zu machen…
Tannenberg im Vorüberkommen …
Eigentlich wollten wir durchfahren. Von Annaberger Seite her beginnts mit einer Fleischmehlfabrik … und dann stellen sich den Blicken in den weg, breit, auffallend und das obere Dorfbild völlig beherrschend: die umfänglichen Glanzstoffwerke mit ihren eigentümlich schräg-grünen Dächern und den kerzengraden Nadelbäumen vor der kahlroten Ziegelfront. Tannenberg empfiehlt sich also jedem, der vom Pöhlberg her naht, mit den Zeichen seines rührigen Fleißes. Während im Tal das bedeutende Werk die Wasser der Zschopau — sie muß auf Tannenberger Flur manches Wehrhindernis ertragen — nützt, strebt dicht neben der industriellen Emsigkeit stiller grauer Feldweg zur Höhe und in die Weite. Droben lugt das Fachwerk einer kleinen Wirtschaft und so kommt ein merkwürdiger Gegensatz zwischen Fabrikschaffen und verwurzeltem Bauerntum zustande.
In der Ortsmitte — die KVG unterhält fünf (!) Haltestellen im Dorfe — müssen wir unweigerlich halten. Das Dorfbild ist an dieser Stelle besonders interessant. Da steht das hellfrontige Gemeindeamt. Mit drei Wagen bimmelt ein Eisenbahnzug über die Eisenträger einer Brücke. Am Hang über dem hölzernen Gebäude der Bahnstation stehen gemütlich gestaffelt die Häuschen. Am Dorfrand haben sich einige Bauernhöfe niedergelassen. Dort, wo der Geyersbach zur Zschopau hereinkommt, plaudern wir mit einer Frau, die vor achtzehn Jahren von Leipzig zugezogen ist und die jetzt „ihr Tannenberg nicht missen möchte …” Da wir einmal ein Stündchen im Dorfe bleiben, schauen wir uns auch etwas eingehender um. Bei dem schmucken Häuschen Nr. 6c mit der Jahreszahl 1865 über der Haustür merken wir die Liebe des Eigentümers für einen gepflegten Garten. Bei zwei Hütten können wir bequem in die Dachrinne gucken, ohne daß wir die Zehen spitzen. In den ausgewaschenen Wurzeln der Sträucher an der Zschopau hängt das, was höheres Wasser mitbrachte. Der Gottesacker verläuft schmal bis zum Waldrand hinauf. Von da oben hat man einen guten Überblick über das Taldorf. In der Mitte der friedlichen Stätte steht eine Bank am Baum. Vor uns steht der unverputzte Kirchturm und malerisch ist an ihn eine Holztreppe für den Glöckner angeschmiegt. Wiesen und Felder leiten vom Friedhof über in die bergige Weite des umliegenden erzgebirgischen Landes.
Das Sehenswerteste allerdings, was wir in Tannenberg finden, ist sein Weltkriegsmal. Jeder sächsische Ort hat dieses Problem in anderer Weise gelöst. Hier aber ist es eine ausgezeichnete Verbindung geworden von weiter Vergangenheit mit der nahen, die mahnend in die Zukunft weist. Der alte Ritterturm hinter Wassergraben, kleiner Fontäne und gewölbter Straßenbrücke trägt die Namen der Tannenberger Gebliebenen. Ihre Reihe ist angeführt von einem am 30. August 1914 gefallenen 181er und auch die beiden ersten Toten des Jahres 1916 sind von diesem Chemnitzer Regiment, geblieben am 19. Januar und 17. Februar …
Wir sind erfreut, Tannenberg im Vorübergehen so kennengelernt zu haben und wundern uns bei seiner Waldlage natürlich nicht, daß uns der Bürgermeister im Gemeindesiegel die … Tanne weist!
Freundliche Abendstunde über Geyer.
Wir klingeln am wuchtigen Turm der Laurentiuskirche zu Geyer, treten auf die Stufen vorm Haupteingang und harren des Türmerrufes von hoch droben: „Wer ist da?” Das Fenster öffnet sich tatsächlich sofort. Des Türmers Kopf schiebt sich heraus und dann wird uns die Tür aufgetan. Die Kletterei beginnt.
Im molligen Stübchen hoch über dem Städtchen finden wir uns nach etlichen Stufen ein. Die Kinder des Türmers sind eben gebadet worden und nun sitzt die fünfköpfige Familie in bester Eintracht beim Nachtmahl zusammen. Dann müssen die beiden Buben und das Mädel in die etwas tieferliegende Schlafstube zur Ruhe. Mit Gutenachtgrüßen sie’s still und wohlerzogen.
Für uns Erwachsene beginnt ein Plauderstündchen. Der Türmer bringt das Gästebuch, dem wir unseren Eintrag unbedingt einverleiben müssen. Über Jahr und Tag, wenn seine Sprößlinge auch groß sind, werden sie sich noch freuen, daß wir ihre Wohlerzogenheit zum Anlaß nutzten, sie im Gästebuch zu verewigen. Kürzlich war auch die Schriftstellerin Gertrud Busch aus Dresden oben. Sie nannte ihre Reise eine „Märchenfahrt ins Erzgebirge” und wir glauben, daß die Autorin wunderschöner Märchen auf dem Wachtturm zu Geyer manche wertvolle Anregung empfing. Wir schauen vom tiefnischigen Fenster zur Stadt hinunter, die uns mit ihren vielen lichtvollen Fensteraugen und brennenden Straßenlampen recht vertraut anblicckt. Es geht auf 20 Uhr. Der Türmer hat schon mehrere Male nach der Uhr gesehen. Jetzt erhebt er sich. Feierabend muß geläutet werden. Fünf Minuten lang. Und dann folgt Schlag auf Schlag das Gebetsanschlagen, dumpf und feierlich. Die Leute drunten in Geyer wissen, daß ihr Türmer immer pünktlich und auf dem Posten ist. Wenn wir mit ihm plaudern, fühlen wir deutlich, wie gern er seinen Dienst tut. Er möchte für sein Leben gern Türmer bleiben und auch seine frau fühlt sich wohl in der stillen Klause über dem Städtel.
Der Plausch in der Türmerstube ist eine recht gemütliche Stunde. Ehe wir wieder hinabsteigen, schauen wir erst noch einmal den drei festschlafenden Kindern in die rotbäckigen und ruhigen Gesichter und ahnen dabei von den friedvollen Stunden der Türmerfamilie auf dem starken Wachtturm zu St. Laurentius in Geyer. Der Türmer blickt uns fast ungläubig an, als wir ihm bedeuten, daß wir von Chemnitz bis Dresden auf der Autobahn 55 Minuten brauchen und daß er vielleicht noch wach ist, wenn wir angesichts des Elbstroms diese schnelle Fährte verlassen. Ja, so’n Türmer lebt sein Leben wohl doppelt so lange wie wir, die wir vom Tempo der Zeit ergriffen sind. Um deswillen sind die Menschen über Geyer zu beneiden!