Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 38, 19. September 1926, S. 6
Von verloschnen Sternen fällt der Strahl
immer noch, wie einst, auf Burg und Tal;
und so leuchten mir noch aus der Ferne
meiner Jugend längst erloschnen Sterne.
Jul. Sturm.
Es war an einem trüben Februartage des Jahres 1867, als ich, ein noch unerfahrener Mann von 19 Jahren, Annaberg verließ. Zwei meiner Freunde hatten schon längst vorher unsere gemeinsame Vaterstadt verlassen. Beiden hatte ich bis zum Bahnhofe das Geleite gegeben. Der eine, Ernst Wagler, ging nach Paris, der andere, Reinhard Pohle, fuhr über das große Wasser nach Amerika. Beiden ist es gut ergangen, aber ich habe später nichts mehr von ihnen gehört. Nun schied auch ich. Bald 60 Jahre sind darüber vergangen. Und wenn ich auch eine neue gute Heimat gefunden habe, die alte Heimat, wo meine Wiege stand und wo ich die Kindheits- und Jugendjahre verlebte, das alles leuchtete noch wie ein Traum in mein Alter hinein.
Wenn ich mich nun unterfange, meinen lieben Annabergern etwas aus dieser Zeit vorzuplaudern, so möge man ja nicht die Beschreibung großer Ereignisse erwarten. Was ich bieten kann, sind nur kleine Bilder aus vergangenen Tagen, wie sie sich einem Neunzehnjährigen eingeprägt haben.
Annaberg ging in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nur wenig über die Grenzen der alten Stadtmauer hinaus. Ich erinnere nur daran, daß damals seitwärts der Zick-Zack-Anlagen noch keine Häuser standen, daß das ganze jetzige Bahngelände (die Eisenbahn wurde erst am 1. Februar 1866 eröffnet) noch Feld und Wiesen waren. Nur am Ausgange der Buchholzer Straße stand rechts ein altes Gut. Keine Straße und kein Weg ging durch das tiefe Tal von der Brücke abwärts. Dort in der Nähe des alten Gutes wurden wir, d. h. die erste Klasse der Bürgerschule, von unserm Turnlehrer Vogelsang öfters im Winter zum Ruscheln befohlen. In einer breit ausgezogenen Reihe sausten wir auf unseren Stahlschlitten auf Kommando den steilen Berg hinunter und drüben wieder eine ziemliche Strecke den Berg hinauf.
Vor dem Wolkensteiner Tore nach der Seminarseite zu stand noch die alte ehemalige Chausseegeldeinnahme, ein schmuckes Häuschen, an der Vorderfront von schönen Säulen getragen, und weiterhin links von der Chaussee der alte „Gasthof zur Sonne”, vor dem ich als Junge manchmal gestanden bin, um mir die von weit her gekommenen, mit Gütern beladenen Frachtwagen, die vor dem Gasthofe vor der Weiterfahrt Rast hielten, anzusehen. Die Fuhrleute, meist im blauen Leinenkittel, und das mit Messingverzierung pp. reichgeschmückte Riemenzeug der Pferde gaben ein wechselvolles Bild, wie man solches heute nur noch in manchen Gaststuben bildlich dargestellt sieht. Weder auf der Wolkensteiner Chaussee noch auf der Geyersdorfer Straße mit dem Jägergut gab es damals Wohnhäuser.
Und nun der alte liebe Pöhlberg und seine ganze Umgebung. Wie ganz anders und gar nicht einladend sah dieser in meinen Jugendjahren, so um 1858 und später, noch aus. Vom Schießhaus aus führte zwar die schon im Jahre 1848 als Notstandsarbeit gebaute Straße nach dem Pöhlberg. Da, wo heute das ehemalige Waldrestaurant steht, befand sich die alte Ratsziegelei mit ihren Lehmpfützen und alten Ziegelscheunen. Und darüber hinaus bis zum Fuße des Pöhlberges gab es hauptsächlich nur Wiesen und Hutungen, deren Grenzen mit seit alten Zeiten vom Pöhlberg herabgeführten Basaltsteinen belegt waren. Und auf dem Pöhlberge, den wir Jungens im Sommer oft bestiegen, befand sich kein Weg und kein Bäumchen, auch keine Blume, nur ein Meer von gelblichen Schmielen. Alles sah öde und trostlos aus. Mir ist nicht bekannt geworden, daß damals im Winter, die früher ganz anders auftraten als wie jetzt, jemand auf dem Pöhlberg gewesen wäre. Man hätte ihn für nicht zurechnungsfähig gehalten. Und heute! Durch den immer bekundeten großen Gemeinsinn der Annaberger Bürgerschaft und der aus dieser wieder hervorragenden Männer, wie des verstorbenen Bürgermeisters Voigt, unter dessen Amtierung u. a. der Stadtwald angelegt worden ist und in der Neuzeit des Stadtrates Roch, der sich durch die in den letzten Jahrzehnten geschaffene prächtige Ausgestaltung der Pöhlberganlagen hochverdient und sich ein bleibendes Denkmal damit errichtet hat, ist der Pöhlberg und seine Umgebung nicht nur für Annaberg, sondern auch für das ganze Erzgebirge und weit darüber hinaus ein kostbares Kleinod geworden. Der Annaberger schönster Spaziergang ist der nach dem Pöhlberg! Dort oben in stiller Bergeinsamkeit und inmitten herrlicher Waldungen kann er fern von dem lärmenden Getriebe der Welt dem lieben Gott besser ins Auge schauen und seine Werke bewundern.
Als ich vor einigen Jahren an einem sonnigen Nachmittag auf dem Pöhlberge war, ging ich nach der sogenannten „wilden Ecke” und setzte mich inmitten hoher Bäume und großer, mächtiger Basaltwacken auf die dort aufgestellte Bank. Da traf ich einen alten Herrn, von dem ich im Laufe des angeknüpften Gesprächs erfuhr, daß er ein Oberpfarrer i. R. war und mit seinen 84 Jahren noch einmal das Verlangen gehabt habe, sein altes liebes Annaberg, in dem er einst die Realschule besucht habe, vom Pöhlberge aus anzuschauen. Er, der den Pöhlberg von früher her kannte, konnte nicht genug die Schönheit dieses Berges und seine Anlagen rühmen.
Vor 70 Jahren hatte Annaberg noch ein recht kleinstädtisches Aussehen. Viele von den alten Straßen, den kleinen, trauten Häuschen und den stillen Winkeln sind im Laufe der vergangenen Jahrzehnte verschwunden. Wehmütige Empfindungen befallen mich jedesmal, wenn ich bestimmte Gassen durchgehe und alte Stätten meiner Jugendjahre nicht mehr vorfinde. Und doch besteht nahe des Klosterberges noch ein kleines verträumtes Gäßchen, in dem meine Eltern vor 75 Jahren wohnten. Das einzige niedrige Obergeschoß hat nur 4 kleine Fenster. Vor Jahren fiel es mir ein, mit einer Tüte bewaffnet, in dieses kleine Häuschen einzudringen, um die Stätte meiner frühesten Kindheit noch einmal, wenn auch in anderer Beleuchtung, zu sehen. Ich trat in ein kleines, von einer jungen Familie bewohntes niedriges Zimmer ein. Da ging mir das Herz auf, ich war im Jugendland. Ein heller Schein durchstrahlte mich, als ich eines mir in der Erinnerung gebliebenen tief eingeprägten Weihnachten gedachte. Hier war es, wo ich als ein 4- bis 5jähriger kleiner Knabe an einem Weihnachtsmorgen an einem weißgedeckten kleinen Tischchen saß, auf dem eine ganze Stadt kleiner Häuschen mit allem Drum und Dran aufgebaut worden war. Und darüber warf der von Vaters Hand fein geschnitzte und mit Perlen gehangene Leuchter, auf dem sechs Dillen brannten, sein Licht über die kleine Stube. Sonderbar, die Freude, die ich damals empfunden, kehrt oft wieder, wenn ich in meiner zur zweiten Heimat gewordenen Stadt zur Weihnachtszeit den Christmarkt durchwandere und in den Drechslerbuden Schachteln mit Häusern gefüllt erblicke. Aus diesem kleinen Lebensbilde ist mir so recht zur Gewißheit geworden, daß wirklich nicht viel dazu gehört, ein sonst nicht verzogenes Kind mit wenigem glücklich zu machen. —
Einzelne Gassen haben sich trotz ihrer langen Vergangenheit nicht verändert. So z. B. die Farbegasse mit ihrem alten Hirthäusel. Der Blick in diese altertümliche Gasse und darüber hinaus bis zur Annenkirche ist einer der interessantesten und durch Postkarten (in Tag- und Nachtstimmung), sowie in Büchern und Zeitschriften erschienenen Bildern bekannt geworden. Auch die beiden Kirchgassen, die Sommerleiten und die Kartengassen sind mit wenigen Ausnahmen in der Hauptsache wohl unverändert geblieben.