Ein Beitrag zur Geschichte des Zunftwesens in Annaberg von Emil Finck.1.
Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt 120. Jahrgang, Nr. 29, 24. Juli 1927, S. 1 – 2
Von allen Wohlfahrtseinrichtungen gilt wohl keine für so selbstverständlich und willkommen wie die polizeiliche Überwachung des Handels mit Lebensmitteln. Insbesondere ist es hinsichtlich des Fleisches und Brotes als unserer wichtigsten Nahrungsmittel der Fall. Und zwar erwartet man von den zuständigen Orts- oder Landesbehörden weitestgehende Fürsorge nach zwei Richtungen hin: zuvörderst möchte man durch sachverständige Aufsicht die an sich nicht immer leicht erkennbare Unschädlichkeit und Güte der Waren ein für allemal gewährleistet sehen, und sodann wünscht man auch, jedwedes Argwohnes wegen etwaiger Übervorteilung beim Einkaufe überhoben zu sein. In früheren Zeiten, da die Verkehrsverhältnisse noch ungünstiger lagen und der Ausgleich zwischen Mangel und Überfluß verschiedener Gegenden nicht so leicht herbeigeführt zu werden vermochte wie jetzt, erwuchs der Verwaltungsobrigkeit übrigens auch noch die bei weitem schwierigere Pflicht, auf rechtzeitige Zufuhr und ansehnliche Vorräte unausgesetzt bedacht zu sein, soweit es die Umstände erheischten und gewisse Verhältnisse es gestatteten.
Für Gegenden, die auf stete Zufuhr von Lebensmitteln aus der Ferne unbedingt angewiesen sind, weil die Menge der heimischen Erzeugnisse auch zu günstigen Zeiten das Bedürfnis nicht ausreichend befriedigen kann, sind solche Wohlfahrtseinrichtungen ganz besonders von nöten; denn hier liegt die Gefahr einer Schädigung der Bewohner nach jedweder Hinsicht doppelt nahe. Im volkreichen, fruchtarmen Obererzgebirge sind die Verhältnisse derartig, und früher — besonders als man hier die Kartoffel noch nicht kannte — war es in noch erheblicherem Maße der Fall. Daher haben vorzugsweise in Annaberg jene polizeilichen Maßnahmen im Sinne allgemeiner Wohlfahrt sich jederzeit nötig erwiesen, und tatsächlich sind sie auch von alters her mit Eifer hier wahrgenommen worden.
Die Darlegung gestaltet sich von selbst zu einer Entwicklungsgeschichte der beiden in Betracht kommenden Handwerke: desjenigen der Fleischer und das der Bäcker, die unter dem Drucke polizeilicher Überwachung alsbald zu Innungen sich festigten. Und da die Annaberger Chronisten samt und sonders bisher mit dem Zunftwesen sich überhaupt nicht eingehend beschäftigt haben, so lag es nahe, alles einschlägige Material so weit als möglich herbeizuziehen und die Ergebnisse in Form eines zunftgeschichtlichen Abrisses darzubieten. Gleichwohl möchte das Dargebotene vor allem zeigen, unter welchen Schwierigkeiten und Mißhelligkeiten die Stadt Annaberg — und ähnlich wohl auch manche andere — vor vierhundert Jahren mit Fleich und Brot versorgt ward.
Die wichtigsten alten Urkunden und Aufzeichnungen der beiden genannten Innungen scheinen im Zeitenlaufe abhanden gekommen zu sein. Das Schriftwerk, das in den Zunfttruhen noch aufbewahrt wird, ist zu dürftig, um darnach ein anschauliches Bild der gekennzeichneten Zustände entwerfen zu können. Die vorhandenen Annaberger Chroniken geben gleichfalls keinen befriedigenden Aufschluß, und an allgemeinen Geschichtswerken, die sich mit dem Gegenstande befassen, scheint die Literatur überhaupt nicht reich zu sein. Ein erfreulicher Zufall aber hat den Verfasser ein altes, bisher unbeachtetes Manuskript auffinden lassen, das ihn zur reichfließenden Quelle wurde: — das „erste Ratshandbuch” der Stadt Annaberg. Es enthält auf 176 Blatt in Bogengröße teils flüchtige Notizen und Entwürfe, teils Protokolle und Kopialien aus der Zeit von 1505 bis 1528 in vielerlei Handschrift2. Weil in der jungen, stark bevölkerten Stadt, deren Bewohner aus allen Gegenden des Reichs zusammengeströmt waren, mancherlei Bedürfnisse und Übelstände besonders auffällig zu Tage traten und amtliche Erörterungen und Maßnahmen in weitestem Umfange veranlaßten, so ist in dem Ratshandbuche manches aufgezeichnet worden, was anderwärts wohl nicht aktenkundig gemacht zu werden brauchte. Auf diese Weise aber hat das Buch eine Reichhaltigkeit des Inhalts gewonnen, die gar viele sonst wenig beachtete Lebensverhältnisse und Lebensbedingungen jener Zeit trefflich beleuchtet. Die vorliegende Darbietung, welche sich lediglich mit dem nächstliegenden Teile der Ernährungsfrage beschäftigt, soll eine Reihe kulturgeschichtlicher Erörterungen auf Grund jener Aufzeichnungen eröffnen.
Nach Arnolds Chronik3 sollen die ältesten Innungsartikel der Annaberger Fleischer aus den Jahren 1514, 1519 und 1556 stammen. Das genannte Handwerk besitzt jetzt aus jener Zeit nur noch eine Abschrift der Artikel vom zuletzt genannten Jahre, die sich allerdings ausdrücklich auf die vom Jahre 1514 beziehen. Die Wahrscheinlichkeit aber spricht dafür, daß die Fleischerinnung älter sein müsse, und das Ratshandbuch bestätigt diese Annahme. Bereits am Fronleichnamstage des Jahres 1506, dem ersten Kirchenfeste, von dem die Aufzeichnungen des Rats überhaupt handeln, konnten sich an der Prozession die Fleischer bereits als Korporation beteiligen, welche Möglichkeit außer der Knappschaft und den beiden damals schon bestehenden Brüderschaften nur noch den Schmieden und Schneidern geboten war.
Der Rat bestimmte nämlich und ließ ausrufen wie folgt: „Nach dieser Ordnung sollen die Kerzen vff des heiligen Leichnams Tage getragen werden: Zum Ersten: die Knappschaft. / Zum Andern: die Brüderschaft des Rosenkranzes. / Zum Dritten: die Schmiede und ihre Gesellen. / Zum Vierten: Sankt Jakobs Brüderschaft. / Zum Fünften: die Fleischer. / Zum Sechsten: die Schneider. / Was hernachmals mehr Kerzen würde aufgebracht, die sollen vor diesen gehen und getragen werden.”
Schon vorher hatte sich aber der ehrbare Rat mehrfach mit dem Fleischerhandwerke zu beschäftigen gehabt, weil ihm die Bürgerschaft mit fortwährenden Klagen über den gewinnsüchtigen Eigennutz der Fleischer und mit allerhand Beschwerden überen deren feilgebotene Ware dazu Anlaß gegeben hatte. Bald hatten sich die mißtrauischen Einwohner über zu hohen Preis des Fleisches, bald über dessen zweifelhafte Herkunft und Güte in Aufregung befunden, bald waren Anzeigen wegen des Gewichts oder wegen unzureichender Auswahl und Menge der Marktware erstattet worden.
Um solchen Beschwerden, mochten sie nun beobachteten Tatsachen entsprechen oder nur dem landläufigen Mißtrauen entsprungen sein, zum Vorteil für beide Teile zu begegnen, ließ der Rat Fleischbänke errichten und eine Marktordnung ergehen. Nach dieser mußten die Fleischer zu bestimmten Zeiten öffentlich nebeneinander feilhalten, und zwar das bankwürdige Fleisch auf den Bänken, das makelhafte aber abseits auf dem Stock.
Dabei hatte das Fleisch nicht bloß zur vergleichbaren Auswahl für die Käufer, sondern auch zur polizeilichen Kontrolle auszuliegen. Mit dieser Wahrnehmung öffentlicher Interessen, die neben großer Vertrauenswürdigkeit ein gehöriges Sachverständnis der Ausübenden voraussetzt, waren die Vormeister oder, wie man damals schrieb, „Viermeister” betraut. Sie wurden für dieses Ehrenamt stets auf ein Jahr erwählt und hatten, auch wenn sie fortgesetzt im Amte blieben, alljährlich aufs neue vor dem neuen Rate mit „aufgerackten Fingern” zu den Heiligen zu schwören, weshalb sie auch als geschworene Handwerksmeister bezeichnet wurden.
Bei der Vereidigung machte sie der Rat mit ihren Ehrenpflichten hinlänglich bekannt. Diese erstreckten sich nach der im Ratshandbuche wörtlich aufgezeichneten Formel auf folgende Punkte:
- Sie sollen fleißig Aufsehen haben auf die einheimischen und fremden Handwerksmeister, daß sie nur gutes, taugliches und gäbes (d. i. gangbares) Fleisch, nicht finniges, nicht selbstürbisches, nicht wolfbissiges, nicht räudiges, sondern das ohne Wandel ist, feilbieten.
- Sie haben auch darauf zu sehen, daß sie (die Fleischer überhaupt) alle nur Vieh, das alt genug ist, schlachten4, und daß diejenigen, welche ungäbes Fleisch feilhalten, damit auf den Stock treten sollen.
- Daß sie auch nicht wider die Satzung schlachten sollen.
- Die geschworenen Handwerksmeister sollen auch alle Sonnabende, wann Fleisch feil ist5, vor eines jeglichen, er sei Fremder oder Einheimischer, Banken gehen und besehen, daß er gutes Fleisch feilhabe.
- Darauf acht haben, daß die Fleischer kein Fleisch, das ihnen Sonnabend ist übriggeblieben, in der nächsten Woche feil haben.
Die letzte Bestimmung, so gut sie im allgemeinen Interesse gemeint sein mochte, enthielt eine für die Fleischer doch sehr empfindliche Beschränkung. Konnten sie den Wochenbedarf immer so genau voraussehen, daß Nachfrage und Angebot sich auch nur annähernd deckten? Da nun aber das übrig bleibende Fleich nach obiger Verordnung des Rates die Bankwürdigkeit verlor, so war es schlechterdings entwertet und manchmal wohl nur unter erheblicher Einbuße verkäuflich, soweit man nicht eine andere Verwendung dafür fand. Das veranlaßte begreiflicherweise die Fleischer zu einer gewissen Vorsicht. Und so kam es, daß an manch einem Sonnabende die Fleischer wohl mit Zufriedenheit die leeren Bänke vorzeitig schließen konnten, der Bedarf an Fleisch aber — nicht gedeckt wurde.
Wenn dann freilich unter solchen Umständen viele Familien am Sonntage des duftenden Bratens entbehren mußten, so wurde dadurch der bürgerliche Friede nicht unerheblich gestört. Und solche Störungen führten zu einer endlos erscheinenden Fehde zwischen dem ehrbaren Rate und dem ehrsamen Handwerke der Fleischhauer. Letztere versuchten zunächst bei treuer Einmütigkeit, wie sie unter Konkurrenten nur ein allen gleichmäßig fühlbaren Druck zu zeitigen vermag, sich den lästigen Ratsverordnungen in eigener Machtvollkommenheit zu widersetzen. Sie ließen eines Tages die ihnen von Rats wegen errichteten Fleischbänke gänzlich leer stehen und verkauften in ihren Häusern nach eigenen Gutdünken, was, wie und an wen sie wollten. Ihren lästigsten Widersachern aber verweigerten sie aus verletztem Rechtsgefühl und zum Zeichen, daß auch sie Kampfmittel besaßen, die jenen unbequem werden konnten, die Warenabgabe überhaupt.
Das geschah zu Anfang des Jahres 1506. Daraufhin wurden sämtliche Fleischer in Anklagezustand versetzt und am Donnerstage nach dem Dreikönigstage vor den sitzenden Rat gefordert. Da ward ihnen die Anklage eröffnet:
- daß sie am Mittwoch nicht Fleisch feilgehabt,
- daß sie Fleisch in ihren Häusern verkauft und gewogen gehabt.
Sie hatten sich zunächst darüber bindend zu erklären, ob sie allezeit die Stadt und Gemeinde mit Fleisch versorgen wollten oder nicht. Und da sie willfährig die Verpflichtung einzugehen versprachen, so gebot ihnen der Rat: „So sollen sie hinfort jeglich Fleisch einem jeden bei dem Pfunde wiegen und verkaufen. Und welcher das nicht tue, den will der Rat in Strafe nehmen.”
Die Strafbefugnis, so die Vormeister über die anderen Fleischer gehabt, hob der Rat auf. Auch verordnete er vier Ratsmitglieder, nämlich Lienhard Focke, Georgen Cantz, Hans Gulden und Jobsten Freitag, daß „sie alle Tage in die Fleischbänken und Schlachthäuser gehen und fleißig Aufsehen haben sollten, daß einem jedermann, der Fleisch zu kaufen begehre — daß ihm dasselbe gewogen und verkauft werde; auch daß sie die Gemeine mit genugsamem Fleische versehen. Es sollte aber trotzdem dasjenige, so den Viermeistern über die andern Fleischer, das Handwerk belangend, übertragen — nicht aufgehoben, sondern in ihrer Macht behalten werden.”
So war denn unter glimpflicher Nachsicht von oben und unter reumütiger Fügsamkeit unten die Sache in Frieden ausgetragen worden. Eine Weile ging, wie es den Anschein hat, alles gut und ordnungsgemäß. Dann kamen die vierzigtägigen Fasten, während welcher Zeit das Schlachtbeil nach kirchlicher Vorschrift überhaupt zu ruhen hatte.6 Diejenigen Fleischer, die nicht feiern wollten, setzten sich inzwischen zu den Höken auf dem Markte und hielten Fische feil.
Nach Ostern aber war Ratswechsel, und die Fleischkost stand wieder in hohem Ansehen bei jedermann. Da war denn für die Fleischer abermals die Zeit gekommen, insgeheim ihren geschäftlichen Vorteil nach Möglichkeit wahrzunehmen. So hatten die Konsumenten auch wieder erhöhtes Interesse daran, jenen auf die Finger zu sehen und ihr Tun und Treiben zu beargwöhnen.
Demnach war der neue Rat alsbald genötigt, sich schon wieder mit der Fleischerordnung zu beschäftigen und die früher erlassenen Bestimmungen zu ergänzen, zu erweitern oder in schärfere Fassung zu bringen.
Am Donnerstag nach Ursula (22. Oktober) 1506 — also neun Monate nach dem vorhin erwähnten Gerichtstage — ist dem Handwerk der Fleischer im sitzenden Rate befohlen worden:
daß ein jeglicher soll sein recht Gewicht haben — bei Pön 10 Groschen.7
Es soll auch ein jeglicher alle Wochen seinen Loszins geben, er habe feil oder nicht feil. Ebenfalls bei Androhung einer Pön von 10 Groschen.8
Es soll auch ein jeder Fleischer die Stunde, so der Rat ernennen wird, sein Fleisch in der Fleischbänke feil haben und nicht in den Häusern verkaufen, bei Pön 10 Groschen.
Es soll auch hinfort ein jeglicher Fleischer so viel Fleisch, als welchem ihm verlost, und nicht zweierlei Fleisch, als bisher geschehen, zu feil zu haben gedungen worden, feil haben9.
Überdies wird ihnen noch folgendes angesagt: Ein jeglicher Fleischer soll und mag von dato bis Andrä (30. November) so viel Rinder schlagen, als er will, doch also, daß er das Fleisch auf dem Markte feil habe und das Pfund für 3 Pfennig geben solle. Nach solcher Zeit soll ein jeglicher Fleischer in der Woche über drei Rinder nicht schlagen.
- Auszug aus den Mitteilungen des Vereins für Geschichte, Jahrbuch 1898 — 1900. ↩︎
- Der reichverzierte Pergament-Einband trägt, wie die ältesten Annaberger Ratsbücher alle, die Jahreszahl 1538. Beim Binden sind einige Lagen vermengt und verheftet worden. Bis zum Jahre 1505, in dem das Annaberger Ratswesen erst gründlich geordnet wurde (vergl. Mitteilungen des Vereins für Geschichte von Annaberg und Umgegend. Band I, Heft V, Seite 31 fg.), scheint ein ähnliches Merkbuch von Amts wegen nicht geführt worden zu sein. ↩︎
- Mag. Georg Arnold, Chronicon Annæbergense vom Jahr 1658 (gedruckt 1812) Seite 94. ↩︎
- Schlachtkälber durften nicht unter drei Wochen alt sein. Übertretungen dieser Bestimmung wurden mit hoher Strafe (fünf Schock Groschen) bedroht. Das unzeitig geschlachtete Vieh aber wurde mit Schimpf vom Rathause herabgeworfen, durch den Henker vor die Stadt gebracht und auf dem Schindanger öffentlich verbrannt. ↩︎
- In den Fastenzeiten war dies nicht der Fall. ↩︎
- Ausgenommen zu Lätare. ↩︎
- Nach Arnold, a. a. O. Seite 93, sind bei der Stadt zweierlei Gewichte im Gebrauch gewesen: das Kram- und das Fleischergewicht. Letzteres war das schwerere. Ein Fleischerpfund überwog das Krampfund um 7 Lot und ein halbes Quent und wurde nicht wie dieses in Lote und Quente, sondern nur in Halbe, Viertel und Achtes (halbe Viertelpfunde) eingeteilt. Zwanzig Pfund hießen Stein. Das schwere Gewicht hatte Geltung für alle Eßwaren, sofern diese nicht stückweise oder nach dem Hohlmaße gehandelt wurden. ↩︎
- Loszins heißt das Pachtgeld für die durchs Los vergebenen Rats- und Fleischbänke. ↩︎
- Mag wohl heißen: Es soll jeder Fleischer so viel Fleisch feil haben, wie bei der Losung bedungen worden ist, und nicht durch heimlichen Nachschub die Abgänge im Vorrat ersetzen (nicht zweimal Fleisch auflegen) — wodurch die Kontrolle umgangen und der Loszins geschmälert werden würde. ↩︎