Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 25, 20. Juni 1926, S. 2
Heimatkundliche Plauderei von Emil Finck.
(Fortsetzung.)
An der Sehma hinführend, ist 1865 die Talstraße als „Annaberg-Buchholzer Bahnhofstraße” erbaut worden. Mit dem derzeitigen Namen ward sie 1889 belegt. Der Schlösselweg weist auf die alte Überbrückung des Kleinrückerswalder Wassers hin. Das dort anstehende Haus (Bahnhofstraße 3) hat seit gar langer Zeit immer „das Schlössel” geheißen. Der Anlaß dazu ist nicht zu ermitteln gewesen, und es besteht ein Zweifel darüber, ob das Wort von Schloß oder von Schleuse abzuleiten sei. Bemerkenswert aber ist jedenfalls, daß der Name in der Gegend wiederholt vorkommt, so bei Jöhstadt und — auf böhmischer Seite — bei Hammerunterwiesenthal. Auch sei dem noch beigefügt, daß die Bezeichnung „Schlösselbrücke” sich auf die in den Jahren 1829 bis 1831 erbaute hohe Überbrückung des Tals übertragen hat, die den alten, beschwerlicheren „Buchholzer Weg” überflüssig machte. Die Grenzstraße aber führt, etwa im Mittel ihrer Länge einen spitzen Winkel bildend, an der Kleinrückerswalder Flurgrenze entlang.
Das Stadtgebiet durchzieht in nordwestlicher Richtung eine sanfte Senkung, durch die der Stadtbach zu Tale eilt. Dessen Anfang ist durch eine 1548 aufgeschüttete Dammsperre zum „Schutzteich” gemacht worden. Seitdem empfängt er den Überlauf und viele Schleusenwässer. Bis auf sein unterstes Stück ist der Lauf überdeckt, und eine kurze Gasse, die auf solcher Decke entlang führt, heißt Bachgasse. In seinem oberen Teile läuft er zwischen den beiden Röhrgassen dahin, durch welche nicht nur das Teichwasser bei Feuersnöten, sondern hauptsächlich auch Trinkwasser aus dem beim Teiche befindlich gewesenen Röhrhause zur Verteilung nach verschiedenen Seiten fortgeleitet ward. In früheren Zeiten war die Bevölkerung zum großen Teile auf das Trinkwasser angewiesen, das öffentliche Brunnen spendeten. Als der vorzüglichste von ihnen galt der vorm „Stufenpförtel” gelegene: von dessen Wasser versprach man sich sogar eine bedeutende Heilwirkung. Kein Wunder, daß das Stufenpförtel den ganzen Tag über lebhaften Verkehr zeigte. Jetzt ist der Brunnen verdeckt, die Pforte verbaut, und der Zugang von der Johannisgasse aus verschüttet. Der „Stufenpförtelweg” ist dem anstoßenden Privatbesitz zugeschlagen worden. Aber die Erinnerung wird wach erhalten in der Bezeichnung Brunnengasse.
Bei zwei Straßen darf man von dem Namen auf die bauliche Beschaffenheit schließen. Das ist bei der Dammstraße (1889) der Fall, die durch Anschütten beträchtlicher Erdmassen entstand, und bei dem Steinweg, der seine jetzige Benennung seit 1879 trägt. Bis dahin hieß letzterer „Theatergasse”, und noch früher bezeichnete man ihn als die „Ballhäusergasse”. Das Theatergebäude, das dort bis 1880 den Kunstsinn der Stadtbewohner befriedigte, verwendet jetzt das Speditionsgeschäft von August Schneider (Karl Riemann) als Speicher. Die „Ballhäuser” aber (Hausnummern 2, 4 und 6), in deren Räumen 1796 Annaberg einen Teil seiner Jubelfeier beging, haben bis etwa um das Jahr 1837 edlen geselligen Zwecken gedient.
Vierte Gruppe.
Es handelt sich nunmehr noch um 11 Straßen, die eine besondere Erwähnung bislang nicht gefunden haben. Ihre Namen sind — bis auf einen — dazu geeignet, Erinnerungen an ziemlich verwischte stadtgeschichtliche Vorgänge und Merkwürdigkeiten zu werfen. Um einige hat bereits die Sage ihre feinen Schleier gewoben.
In folgender Aufeinanderfolge soll ihrer gedacht werden. Erst Große und Kleine Sommerleite nebst Laubengasse und Stufenweg, dann Siebenhäusergasse, Neuegasse, Lindenstraße und Sperrgasse, endlich Große und Kleine Kartengasse und An der Mauer.
Der Ausdruck „Leite” kommt im Erzgebirge wiederholt vor. Es sei nur an die Morgenleite (Höhenzug) und an das Dorf Waschleite bei Schwarzenberg, an den Ort Hirschleite bei Großrückerswalde und an die „Fleischerleite” im Annaberger Flurgebiete selbst erinnert. Im allgemeinen wird als Leite die sanft abhängige Seite oder Lehne einer Bodenerhebung bezeichnet: als „Sommerleite” dann, wenn sie südwärts sich neigt, als „Winterleite” hingegen bei nördlichen Gefälle. Und wo sich der Name nur auf einen talwärts führenden Leitsteig bezieht, da bleibt doch im übrigen der gleiche Sinn bestehen. Nun senken sich aber, dem widersprechend, die beiden Annaberger Sommerleiten ziemlich genau nach Norden zu. Es muß daher wohl ein anderer Umstand bei der Namengebung von Einfluß gewesen sein.
Die Benennung ist jedenfalls so alt wie die Stadt selbst, der eine oder andere Weg aber noch viel älter. Er bildete ein Stück des Verbindungsweges zwischen Kleinrückerswalde und Wiesa, der in der Nähe des Wolkensteiner Tores den Frohnau-Geyersdorfer Weg kreuzte. Als im Frühjahr 1497 der Stadtbau begann, entwickelte sich gerade dort ein emsiges Schaffen und Treiben. Zwar wurden zuvörderst die um den Markt herum gelegenen Baustellen vergeben und verwertet. Mehrere Hundert Wohnhäuser waren gleichzeitig im Bau. Aber an den Sommerleiten lagen die Werkplätze der Zimmerer, und nicht weit davon nach dem Pöhlberge zu erstanden die Ziegelhütten, in denen gar emsig geschafft ward. Und da die vielen Werkleute während jenes Sommers doch auch Obdach nötig hatten für Wetterschutz und Nachtruhe, so erstand dort eine Siedelung mit leichtgezimmerten Hütten. Die Bretterstadt nannte man „Sommerläuben”, an welche nunmehr die Laubengasse noch erinnern soll. Die beiden durchgehenden Straßenzüge aber hießen von damals ab die Sommerleiten. Die leichte Bauart der Häuser war kein unbedingtes Hindernis für dauerndes Bewohnen, und wo es äußerst notwendig erschien, da ließen sich Luken und Spalten mit leichten Mitteln auch noch nachträglich verschließen und verstopfen.