Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt Nr. 1, 126. Jahrgang, 01.01.1933, S. 1.
Von L. Ger-Augustusburg.
Das Erzgebirge bildet auf eine Strecke von 160 Kilometern, vom Elbtal bis zum vogtländischen Hügellande, die natürliche Grenze zwischen den heutigen Freistaaten Sachsen und Böhmen. Früher wich die politische Grenze von der naturgegebenen vielmals ab; die Grenzziehung war unsicher und wies nach Böhmen wie nach Sachsen hin beträchtliche Ausbuchtungen auf. Zur Zeit der Hussitenkriege lagen in den befestigten Städten Brüx und Aussig meißnische Besatzungen und die Plätze Dux, Brüx, Joachimsthal, Platten, Gottesgab und viele andere Orte standen lange Jahre unter markgräflich-meißnischer und — später — unter kursächsischer Hoheit. Auf der böhmischen Seite hatten allerdings die Besitzhungrigen auch nicht geschlafen.
Die alten Urkunden der böhmischen Abtei Ossegg erzählen, daß die Mönche von Ossegg schon zu Ende des siebenten Jahrhunderts über das Erzgebirge gegangen seien und am Ende ihres Vordringens in dem wilden Bergwalde, im Niemandslande, ein festes Haus errichtet hätten um das sich mit der Zeit eine Stadt lagerte. Burg und Stadt wurden „Sadis” benannt, nach dem Namen des damals regierenden Abtes von Ossegg. Aus „Sadis“ wurde „Sayda”, aber erst nach einigen Jahrhunderten.
Der ungewissen Grenzführung machte nach mancherlei Bemühungen seiner Vorgänger endlich Kurfürst August I., der Starke, durch gütlichen Landesaustausch ein Ende. Als die Mönche von Ossegg sich auf der Nordostabdachung des Gebirges festsetzten (damals hieß der Gebirgszug noch Miriquido oder Miriquidi), kann es nur einen schwachen Güteraustausch zwischen den an das Gebirge rainenden Ländern gegeben haben.
Wollten die Ossegger Zisterzienser diese Verkehrsspuren von ihrer Stadt Sadis aus vertiefen? Wahrscheinlich gingen sie nur nach Salz, nach Speisesalz, das für die damalige böhmische Menschheit eine hochwichtige Bezugsware darstellte; denn das Böhmerland jener Tage war ein Land ohne Salzvorkommen. Die geistlichen Herren wollten den Salzquellen an der Saale näherkommen; sie argumentierten vielleicht: Die Heranbringung der begehrten Speisewürze nach Sadis würde den Leuten aus der Salzgegend leichter werden, als der Transport des Salzes in Traglasten oder auf Saumrossen durch den grausigen Urwald bis nahe an den Egerfluß. Wenn die Mönche die Burg Sadis wirklich im Jahre 696 aufbauten, dann haben sie mit dem Wege zwischen Ossegg und Sayda einen der ersten Erzgebirgsübergänge geschaffen. Der allererste war er jedoch nicht, den haben, noch viel früher, Kriegsvölker gestampft, die, von Süden herkommend, den deutschen Gauen links der Elbe zustrebten. Alles Volk, das aus dem mittleren Böhmen nach den nördlichen linkselbischen Landen vorstoßen wollte, mußte durch den Miriquidiwald klettern, dort, wo er dazu die beste Gelegenheit bot, im Osten, oder es sah sich gezwungen das Gebirge zu umgehen und seinen Weg, weit im Westen, durch das Hügelland am oberen Egerlauf zu suchen. Nach rechts gab es vor dem Miriquidi kein Ausweichen. Das Elbdurchbruchgebiet mit seinen steilen, sich eng gegenüberliegenden Wänden, war vollständig weglos. So mußte also im Jahre 17 n. Chr. der Markomannenfürst Marbod, als er Krieg führen wollte gegen Armin, den Cherusker, sich nahe am Elbstrom einen Weg durch und über den Miriquidi suchen und bahnen. Zehntausende von Marbods Kriegsleuten sollen von Böhmen her nach der Gegend, wo die Elbe daran ist, das Sandsteingebirge zu verlassen, den ersten Pfad getreten haben.
Aus dem Pfade wurde eine hinreichend gangbare Heerstraße, die für den Miriquidi lange Zeit die einzige blieb. An den Tal-Enden der Straße entstanden Städte; hüben Pirna, drüben Kulm, und der Übergang hieß: Der Kulmer Paß. Ja, Paß! Auf der böhmischen Seite, in den engen Tälern und auf den holprigen, tiefen Hohlwegen des erzgebirgischen Steilabfalles, sprachen Fuhrleute und Soldaten von diesem Gebirgsübergange und von anderen noch steiler und bis zu 900 Meter abfallenden Straßen in alten Zeiten allen Ernstes als von „Pässen”.
Als im 10. Jahrhundert Deutschland kulturell so weit vorgeschritten war, daß es Handelswaren erzeugen konnte und auch das Böhmerland sich nach Handelsbeziehungen umsah, schuf der Handelswille allmählich weitere Gebirgsübergänge. Auch die Fürsten, hier wie dort, förderten im Laufe der Zeit die Herstellung neuer Handels- und Heerstraßen und sorgten für die mannigfach notwendige Sicherung der großen Wege, sowohl im Interesse des unbehelligten, möglichst angenehmen Reisens der eigenen erlauchten Personen wie in dem Bestreben, ihren Sendboten und Posten gut passierbare, ungefährliche Straßen darzubieten. Der schlimme Miriquidi erzwang geradezu den kräftig anzufassenden Straßenbau. Er lag da als eine morstige, beinahe undurchdringliche Wildnis.
Der fürchterliche Wald umschloß alles Gebiet vom Gebirgskamm bis in das heutige sächsische Niederland, und er wurde durchbraust von zahllosen schnellfließenden Wassern, die aus weiten, wüsten Hochmooren reichlichen Zustrom bekamen.
Im 11. und 12. Jahrhundert entstanden in dem Walde ausgedehnte Rodungen und starke Burgen wurden erbaut. Von den festen Plätzen aus wurden die Handels- und Heerstraßen bewacht und der über sie gehende Verkehr beschützt.
Der uralte Paß von Dohna nach Kulm, der in der späten meißnischen Zeit den Namen Nollendorfer Paß erhielt, genoß zuerst die Segnungen der erwachten Straßenfürsorge. Behütet wurde er anfänglich von der Burg Dohna, die einst den Namen „Donin“ führte und schon zur Zeit Karls des Großen gestanden haben soll.
Dohna und Kulm liegen nur 33 Kilometer auseinander, und der zu übersteigende Gebirgskamm ist nur 680 Meter hoch. Am Lauf des alten Weges waren mit der Zeit auch die Ortschaften Pirna, Berggießhübel, Gottleuba, Peterswald und Nollendorf entstanden. Der Straßenhöhepunkt liegt unweit der Nollendorfer Kapelle.
Die Hussitenkriege und der 30jährige Krieg legten ihre furchtbaren Spuren auf den Übergang. 1683 kehrten über ihn, beutebeladen, die sächsischen Truppen zurück, die beim Entsatze Wiens gegen die Türken mitgekämpft hatten. Der Preußenkönig Friedrich II. benutzte im zweiten schlesischen und im 7jährigen Kriege den Weg über die Nollendorfer Höhe als Einfallstraße nach Böhmen, und in den Befreiungskriegen schmückte nach der Schlacht bei Kulm den siegreichen preußischen General Kleist der Beiname „von Nollendorf”.
Von Dohna und Pirna aus lief auch ein anderer, zwar weniger alter und berühmter, aber ebenfalls stark benutzter Weg über das Gebirge: Die Geiersbergstraße. Ihr Zug wurde schon im 12. Jahrhundert bezeichnet durch die festen Schlösser Pirna, Weesenstein, Kuckuckstein, Bärenstein, Lauenstein und Geiersberg. Die Geiersbergstraße führte in den Biliner Gau. Sie wurde auf dem Berge schmal und senkte sich rasch über 700 Meter Fall ins Tal. Auch über diesen Gebirgsweg ist der Krieg gegangen. Kaiserliche und Sachsen haben auf der Höhe miteinander gekämpft. 1813 wurde Kleist dadurch, daß die nach Böhmen sehr steil abfallende enge Geiersbergstraße sich sehr bald als mit Gefährten aller Art verstopft erwies, gezwungen, nach Osten auszubiegen; Kleist kam dadurch über Seitenwege auf die Kulmer Straße und zu seinem Heil in den Rücken der französischen Armee.