Der städtische Wachtturm von Geyer.

Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt 126. Jahrgang, Nr. 45, 5. November 1933, S. 1-2

Von Karl Hans Pollmer.

Eines selten schönen, ehrwürdig alten Wahrzeichens kann sich die alte Bergstadt Geyer rühmen. Auf einer kleinen Anhöhe, zwischen der St. Laurentiuskirche und dem Pfarrhaus, steht der hohe, mächtige Wachtturm und schaut wie ein Schirmer und Wächter hin über die kleine Stadt. Er verleiht nicht nur dem ganzen Stadtbild ein eigenes Gepräge, sondern trägt ebenso nicht minder dazu bei, den Blick auf St. Laurentius – namentlich von der Seite der Dietzsch-Fabriken oder der Postseite her – um vieles schöner und prächtiger zu gestalten.

An einem herrlichen Sommernachmittag stattete ich mit einem Freund dem Türmer von St. Laurentius, Herrn Major, der schon seit Jahren im Wachtturm wohnt, einen Besuch ab. Er wird sicher manches von „seinem” Turm zu erzählen wissen. Wir haben uns fürsorglich mit Füller und Schreibpapier gerüstet und kommen uns vor wie zwei große Journalisten. Wir haben Glück. Herr Major hat Zeit für uns. Wir finden ihn in seinem kleinem Gärtchen neben dem Kirchhof. Noch ein paar Spatenstiche – dann wird er die „Gärtnerrolle” mit der „Führerrolle” vertauschen.

St. Laurentius ist mit dem städtischen Wachtturm verbunden durch einen Verbindungsgang, den sogenannten Kreuzgang. Früher war diese Verbindung nicht da. Der Wachtturm dürfte aus derselben Zeit stammen, in der die Kirche gebaut wurde, also aus dem Ende des 14. Jahrhunderts. Er wurde, ebenso wie die Kirche als Wehrkirche gebaut wurde, als Wehrturm angelegt. Erst im Jahre 1908 – als (damals war Pfarrer Mehnert noch erster Pfarrer in Geyer) die Laurentiuskirche durch Architekt Woldemar Kandler in ihre gegenwärtige Gestalt umgebaut wurde – erst in dieser Zeit entstand auch der Kreuzgang; dadurch wurden die Kirche und der Wachtturm auch äußerlich zu einer Einheit zusammengefügt. Im Kreuzgang steht noch der alte Taufstein, der bis 1908 in Gebrauch war; sein unterer Teil ist aus Stein, sein oberer aus Holz. Mit Freude erzählt uns der Türmer Major, daß er selbst 1903 noch auf diesem Stein getauft worden sei.

Die Laurentius-Kirche mit dem 28 Meter hohen Glockenturm (links) und der altehrwürdige 42 Meter hohe Wachtturm (rechts) aus dem 14. Jahrhundert, in dem sich über den Schallöchern des Glockenstuhles die Türmerwohnung befindet.

Dann traten wir hinein in den Wachtturm selbst. Sozusagen im „Parterre” herrscht abendliches Düster. Der Türmer meint, er hätte die Wände zwar tünchen können, um den Raum (wir würden „Hausflur” sagen) etwas heller zu gestalten, aber er habe doch lieber die Wände so gelassen, wie sie seit Anfang gewesen sind: Stein neben Stein, roh und ungetüncht. Es wird erzählt, daß beim Bau des Wachtturmes jeder Bergmann einen Stein mit aus der Tiefe gebracht und der Mauer beigegeben habe. Die Mauer mag hier schätzungsweise 2 Meter bis 2,50 Meter stark sein, höher oben wird sie dann dünner. Alles im Turm steht noch so wie in den alten Zeiten; nur in den oberen Stockwerken, wo die Wohnungen des Türmers liegen, hat sich einiges verändert; vor allem sind dort neue Treppen (wie im ganzen Turm: aus Holz) eingebaut worden. Dabei ist der Turm nicht etwa unmodern eingerichtet. Seit 1908/09 hat er fließendes Wasser und elektrisches Licht, seit später auch Gas. Der Wachtturm hat eine Höhe von 42 Meter; die Wohnung des Türmers liegt in einer Höhe von etwa 36-38 Meter; der Wasserdruck ist immerhin noch stark genug, diese am höchsten gelegene Wohnung von Geyer zu erreichen. Der Glockenturm an St. Laurentius ist nur 28 Meter hoch.

Der Türmer Alfred Major ist seit 1928 Türmer in Geyer. Vor ihm, von 1890-1928, war sein Vater, Otto Major, als Türmer angestellt; er ist kurz nach seiner Pensionierung 1928 gestorben. Bis 1890 ist ein gewisser Zimmermann Türmer gewesen. Aus „seiner” Zeit weiß uns der Türmer zu erzählen, daß damals erst das jetzige „Parterre”-Stück des Türmers entstanden sei. Der Wachtturm hat früher keinen Eingang gehabt. Um in das Innere des Turmes zu gelangen, mußte man sich Strickleitern bedienen. Erst reichlich spät, eben als jener Zimmermann Türmer in Geyer war, wurde das damalige „Parterre” (heute „erster Stock”) nach unten durchbrochen und somit ein „normaler” Ein- und Ausgang hergestellt.

Inzwischen sind wir einige Treppen höher gestiegen. Wir stehen vor den Glocken. Zwei Glocken hängen im Wachtturm, die „kleine” Glocke und die „mittlere”, die sogenannte Gebets-Glocke. Die berühmte, 80 Zentner schwere „große” Glocke aus der Zeit des Prinzenraubes hängt im Glockenturm der St. Laurentius-Kirche; sie wird von Türmer Major nicht geläutet, sondern hat ihre eigene „Bedienung”. Die „kleine” Glocke im Wachtturm – wenn man davor steht ist es die linke – wurde 1926 als Kriegergedächtnisglocke geweiht. Sie wiegt 25 Zentner und wird früh (sommers um 6 Uhr, winters um 7 Uhr) und abends (um 8 Uhr) geläutet. Sie ist von den Lauchhammer-Werken in Riesa gegossen worden. Die „mittlere” Glocke wiegt 42 Zentner; sie wird in der Hauptsache mittags um 12 Uhr geläutet; außerdem dient sie zum Nachschlagen – darum heißt sie auch „Gebetsglocke”. Sie hängt seit 1909 auf dem Wachtturm und hat das Schicksal so vieler deutscher Glocken im Weltkrieg nicht zu teilen brauchen. Gegossen wurde sie bei Bierling in Dresden. Die schon erwähnte „große” Glocke auf dem Glocken-Turm wird vor allem bei Gottesdiensten, Beerdigungen, Trauungen usw. geläutet.

Wir steigen aus dem ziemlich „modern” eingerichteten Glockenraum höher hinauf – zur Wohnung des Türmers. Dabei kommen wir u. a. auch am „Keller” vorbei, in den Kohlen und Kartoffeln liegen. Ein „Keller” in luftiger Höhe – so ‚was zu sehen, macht beinahe Spaß. Interessant ist auch der große Flaschenzug, mit dem Kohlen und vor allem Möbelstücke in den Turm hinaufgebracht werden. Die Aufgänge im Turm sind ja so schmal und so eng, daß sich solche Dinge auf ihnen unmöglich transportieren lassen. Darum werden sie mittels Seil hinaufgezogen.

In der Türmerwohnung sitzt Alfred Major in der tief ausgearbeiteten Fensternische und hat den nebenstehenden Blick auf seine Heimatstadt. (Aufnahmen des T. A. W.-Photodienstes.)

Die Türmer-Wohnung besteht aus einem einzigen, aber genügend großen Raum; die Schlafstube und andere Räume liegen tiefer. Von der Wohnung aus hat man einen wunderschönen Blick über Geyer. Unten in der Stadt herrscht reges Leben. Es mutet an, als blicke man in einen großen Spielzeugkasten. Die Menschen, die dort unten gehen, die Autos und Wagen, die dort fahren, auch die Eisenbahn, die sich oben durch die Stadt hindurchschlängelt, die Häuser und Fabriken, selbst das mächtige Rathaus – alles erscheint klein und winzig; es macht viel Spaß, hier am Fenster zu stehen und hinunter in die Stadt zu schauen. Doch wir bleiben nicht lange. Wir steigen weiter aufwärts. Ist das Klettern auf den Holztreppen bisher nicht besonders schwierig gewesen, so wird es jetzt um so umständlicher. Wir müssen uns geradezu hindurchwinden durch ein Gewirr von Ballen und Holz; dazu ist es ziemlich düster; da muß man die Augen mächtig aufreißen, damit man nicht danebentritt und vielleicht gar einen unerwünschten „Rückzug” antreten muß. Es dauert nicht lange, dann stehen wir oben. Wir haben nun nichts mehr über uns außer der großen Kuppel mit der Wetterfahne. Der Blick von hier aus ist unbeschreiblich großartig. Man sieht Annaberg mit dem Pöhlberg, den Bärenstein, den Sauberg, die Greifensteine und vor allem – man sieht das ganze Geyer; nichts kann sich mehr vor dem Auge verstecken. Nicht weit vom Turm entfernt steht die Färberei von Sacher, die alte Naumannsche Brauerei; daneben liegt die Waschbretterfabrik – dort unten wird gearbeitet und geschafft; man sieht das ganz deutlich von oben. Die Menschen und Wagen und Häuser unten in den Straßen sind um vieles „kleiner” geworden – wirklich wie ein Spielzeug muten sie an; und das machen 42 Meter!

Oben unter der Wachtturmkuppel hängen zwei kleine, schon ganz alte Glocken. Nur die eine davon ist noch „in Betrieb”, nämlich die Feuerglocke, die immer bei Feuer und anderen großen Gefahren geläutet wird. Sie stammt noch aus der Bergmannszeit. Noch unter dem Türmer Otto Major ist sie „offiziell” geläutet worden, und zwar früh um 3 Uhr (als Weckruf für die Bergleute), dann um 5 Uhr, um 11 Uhr, nachmittags um 4 Uhr und abends. Um 12 Uhr mittags ist früher nicht geläutet worden. Diese etwas eigentümlich anmutenden Läutezeiten erklären sich aus den Gepflogenheiten und Einfahrstunden der Bergleute. Heute ist, wie schon gesagt, diese Glocke noch „Feuer”-Glocke; es wird kaum jemand in Geyer geben, der sie nicht schon hätte „heulen” hören. Die andere Glocke unter der Wachtturmkuppel diente früher zum Nachschlagen; seit 31. März 1928 – seit Türmer Otto Major aus dem Dienste schied – ruht sie. Beide Glocken tragen alte, fast unleserliche lateinische Inschriften, aus denen ihr hohes, ehrwürdiges Alter zu ersehen ist.

Noch einen Blick in die Runde – nach acht Seiten kann man im einzelnen schauen – dann steigen wir wieder zurück in ein düsteres Balkengewirr, nehmen Abschied von der Türmerwohnung, klettern weiter hinunter, an den beiden großen Glocken vorbei – und dann stehen wir wieder unten inmitten der Menschen, die wir noch vor wenigen Minuten als kleine, winzige Gestalten aus luftiger Höhe bestaunten. Wir werfen noch einen Blick zurück und hinauf, an dem steinernen Riesen hinauf zu der kleinen Wetterfahne auf der Kuppel – ein berechtigtes Gefühl der Befriedigung und des Stolzes nehmen wir mit: das ist „unser” Wachtturm, in dem wir da eben herumgekraxelt sind, ein schönes, selten schönes Stück unserer Heimatstadt – und auf einmal haben wir unser liebes, kleines Geyer gleich noch mal so lieb als zuvor – wir sind dem Schicksal beinahe dankbar, das uns den Gedanken eingab, unserem alten Wachtturm einmal einen kleinen Besuch abzustatten.