Die Annaberger Straßennamen.

Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 35, 29. August 1926, S. 6

Heimatkundliche Plauderei von Emil Finck.

(Fortsetzung.)

Leicht erklärlich aber wird der es finden, der in größeren Badeorten vorübergehend weilte und beobachtet hat, wie bald sich die Kurgäste aus vieler Herren Ländern dort heimisch fühlen, ohne auf Straßenbenennung und Hausnummern zu achten. Auffällige Richtmale sind bald erspäht. Abwechslungsreiche Bauformen, überraschende Namen und eigenartige Hausschilder werden zu Wegweisern.

Die reizvolle Mannigfaltigkeit in der Straßenanlage und in der Bauart der Häuser hat auch im alten Annaberg das Bedürfnis nach weitestgehender Straßenbenennung niedergehalten. Auf eine stattliche Reihe pfadführender Wahrzeichen machte schon die Besprechung der Namen aufmerksam: besonders derjenigen der zweiten und dritten Gruppe. Dabei sind aber nur solche erwähnt worden, die für die heutige Straßenbenennung bedeutsam geblieben sind. Käme es darauf an, so könnten noch andere namhaft gemacht werden. Erinnert sei wenigstens noch an verschiedene Amtsstätten, Bergwerke, Herbergen und Gasthäuser, deren oft absonderliche Namen und Hausabzeichen die Aufmerksamkeit beschäftigten. Ein möglichst bunter Wechsel an Formen und Farben der Häuser, sowie Zunftschilder und Familienwappen oder sonstige Merkmale an denselben dienten hinlänglich zur Unterscheidung. Übrigens half auch der immer rege Volkswitz über manchen Mangel hinweg. Überlieferung und Sagenbildung leisteten gleichfalls gute Dienste.

Für die letzte Behauptung mögen einige rasch aufgelesene Beispiele aus jetziger Zeit den Nachweis erbringen. Obwohl nämlich die Torgebäude bereits vor etwa 75 Jahren niedergelegt wurden und nichts Faßbares an sie erinnert, sind deren ehemalige Standplätze noch heute allgemein beliebt als Anhalt für kurze, genaue Ortsbestimmung. Nach dem Volksmunde steht eben das Georg-Denkmal am Buchholzer Tor, das Ries-Denkmal vorm Böhmischen und das Kriegerdenkmal am Wolkensteiner Tor. Der neu eingerichtete Zuchtviehmarkt im August eines jeden Jahres findet vor dem Mühltor statt und die Posthalterei hat man unmittelbar vor dem Frohnauer Tor zu suchen. Für solch kurze Bestimmtheit kann die neue Straßenbenennung in manchen Fällen überhaupt keinen Ersatz bieten. Auch eine Menge zum Teil längst veralteter Hausbezeichnungen sind stadtbekannt und dienen zum Behelf beim Zurechtweisen: Malzhaus, Hauptwache, Bergamt, Tetzelhaus, Nötig und Nützlich, Meisterhaus, Scharfrichterei — Grüne Fichte, Ballhäuser, Kaiserhof — Schlössel, Heißenfabrik — Benkertgut, Stadtgut, Postgut, Dürrgut, Stechgut, Hühnerzucht usw. Auch der Galgen, der Döhnelteich, der Exerzierplatz und die Feldmark „Vorwerk Hühnerkopf“ mögen hier beispielsweise mit erwähnt werden — und von den scherzhaft erfundenen Namen aus alter und neuer Zeit: die Kaserne, die Synagoge, die Hosenburg, die Rußbutte, sowie der Reischdorfer Himmel, ein überdachtes Koseplätzchen in der Zickzackpromenade.

Für die Verwaltungsgeschäfte der Gemeinde war es früher ausreichend, die Stadt in Viertel einzuteilen. Es gab deren ursprünglich vier: das Große Viertel, das zwischen der Großen Kirchgasse und der Wolkensteiner Straße ausgebreitet lag, das Fleischerviertel, das weiterhin bis zur Klosterstraße sich erstreckte, das Münzerviertel, das den westlichen Teil bis zur Buchholzer Straße umfaßte, und das Kleine Viertel, das den Kreis vollends schloß. Jedem Viertel stand ein Viertelsmeister vor, der die ihm übertragenen Verwaltungsmaßnahmen ausführte, dem vor allem die Führung der Steuerlisten, die Überwachung der Armenpflege, sowie jedwede statistische Ermittelung oblag. Später wurde das Große Viertel in zwei durch den Stadtbach abgegrenzte Bezirke geteilt. Die äußere Stadt bildete gleichfalls ein Verwaltungsgebiet für sich.

Bei der Rechtspflege trat der Mangel an feststehenden Straßennamen schon merklicher hervor. Besitzwechsel, Erbteilungen, Pfandverträge usw. bedingten doch von jeher eine möglichste Sicherstellung der Anrechte oder Verpflichtungen. Dazu war nötig, daß die Einträge in die gerichtlichen Urkundenbücher (Lehn-, Erbteilungs- oder Bewilligungsbücher und dergl.) jedes in Frage kommende Grundstück einwandfrei bezeichneten. Solange eine amtlich feststehende Straßenbenennung oder Hausbezeichnung fehlte, mußte die Lage eines Grundstücks durch Bezugnahme auf die Nachbarschaft festgestellt werden. Das war umständlich und konnte immer nur für eine ungewisse Zeitdauer völlig genügen. Wo die angrenzenden Grundstücke häufig den Besitzer wechselten, wurden die gebuchten Angaben gar bald haltlos. Es ist daher jetzt meist recht beschwerlich, auf Grund von derartigen Niederschriften alte Besitzverhältnisse zu ermitteln, wie folgendes Beispiel zeigen mag.

Die Ries-Gedenkfeier im Jahre 1892 regte dazu an, über die Wohnung des Rechenmeisters umsichtige Ermittelungen anzustellen, weil es unwahrscheinlich schien, daß er auf seinem Wiesaer Vorwerke die vielseitige Beschäftigung betrieben habe, die ihm nachgerühmt wird. So fand ich denn auch in einem der städtischen Lehnbücher den richterlichen Eintrag: Mittwochs post kilian im 25ten hat der Richter Adam Riesen ein Haus geliehen, gelegen zwischen Merten Behemen und Lorenz Leutenpecken, welches er von der Andresen von der Straßen vor 150 fl. erkauft hat. Hat ihme vf michaelis erstkünftig 50 fl. geben. Volgende alle Jahr nach Michaelis 30 fl. zu entrichten. So lange, bis die Kaufsumme gar bezahlt ist. (11)

Wo stand nun wohl das hier beschriebene Haus? Bei so dürftigen Angaben unter tausend Hofstätten die rechte finden wollen, nachdem Jahrhunderte die Spuren verblassen ließen, setzt Ausdauer und Unverdrossenheit beim Suchen voraus. Wenn der Stadtrichter Wolf Jheger nur wenigstens das Stadtviertel bezeichnet hätte, wie es Gepflogenheit war, wenn sich’s um weniger stadtbekannte Leute handelte! Endlich glückte es, der Lehensfolge für das Leutenpecksche aus auf die Spur zu kommen. Das ist — allerdings auch schon vor geraumer Zeit — lange im Besitz der Familie Thorbeck gewesen. Sonach bestand die Möglichkeit, daß es früher eine Zeitlang nach ihr benannt worden sein konnte. Und richtig! Eine Umfrage bei alten Annabergern ergab, daß der Name „Thorbeckhaus” für das jetzige „Café Central” in der Volkserinnerung haften geblieben war. Dieser Zufall kürzte nunmehr die Nachforschung wesentlich ab. Rückwärts fortschreitend ließen sich die Vorbesitzer der beiden Nachbarhäuser verhältnismäßig leicht feststellen; denn eins von diesen ward sicher als das Riesesche vermutet. Und so ergab sich’s denn auch, daß die Lehensverschreibung vom Jahre 1525 sich auf das Wohnhaus Nr. 23 an der Johannisgasse bezog — daß es Adam Ries vom genannten Tage an bis zu seinem Tode zu eigen gehabt hat.

Wieviel einfacher wären derartige aufklärende Ermittelungen zu bewirken, wenn die alten richterlichen Einträge nicht so gar persönlich gehalten wären! Mit der Zeit hat sich wohl eine immer zunehmende Weitschweifigkeit herausgebildet, aber wesentliche Besserung im Nachweis unverrückbarer Werte erfolgte erst, seitdem auf höchstes Geheiß der Grundsatz starrer Sachlichkeit zur Durchführung kam. Das geschah in Sachsen bei der Anlage und hohen Bewertung der Brandversicherungskataster, die durch ein kurfürstliches Mandat vom 10. November 1784 angeordnet worden ist. Die Numerierung der Häuser für das genannte Buch geschah in Annaberg durchaus nach den Anweisungen der Viertelsmeister. Die Reihe beginnt mit dem Rathause, läuft an der südöstlichen Marktseite hin, die linke Seite der Großen Kirchgasse aufwärts und sodann in ununterbrochener Führung weiter durch das Große Viertel, das Fleischer-, Münzer- und Kleine Viertel, wo sie die (Scherbank 34) mit Nummer 995 für die innere Stadt (Abteilung A) abschließt. Eine zweite Reihe (Abteilung B) berücksichtigt die Gebäude der äußeren Stadt. Sie ist nach und nach auf 205 Hauptnummern angewachsen, deren einzelne infolge Zerstückelung der Flur so viel Nebennummern beigezählt erhielten, daß dabei das Alphabet mehrmals durchlaufen worden ist (zum Beispiel 1 B … 1 ZZ … 1 D1).

Diese Nummern haben noch jetzt Geltung, und die Brandkataster sind wohl geeignet, eine äußerst gewissenhafte Grundlage für amtliche Feststellungen und Erhebungen zu bilden. Die Kataster werden daher auch zweckdienlich weitergeführt, wenn neuer Baugrund erschlossen wird oder sonstige Veränderungen es mit sich bringen.

[11] Die Zeitangabe am Anfange bedeutet Mittwoch, den 12. Juli 1525. Der Kaufpreis entspricht etwa dem Durchschnittswerte der Häuser in jener Zeit. Den letzten Rest der Kaufsumme hat Ries zu Michaelis 1528 erlegt. Andreas von der Straßen ist der erste Besitzer des Hauses gewesen.

(Fortsetzung folgt.)