Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt 132. Jahrgang Nr. 10 vom 5. März 1939. S. 7.
Das deutsche Mittelalter ist nur genossenschaftlich zu verstehen. Der einzelne Mensch außerhalb der Genossenschaft ist undenkbar. Diese Genossenschaften beruhten aber restlos auf sozialen Ständen, in die man durch die Geburt hineinwuchs und in denen man bis an sein Ende verblieb. Darin liegt der große Unterschied gegenüber dem heutigen „Ständestaat“. Unsere Stände sind nichts anderes als Berufsstände, und sie bekämpfen gerade das, was dem Mittelalter seinen Stempel aufdrückte, nämlich die soziale Abschließung der einzelnen Stände gegeneinander. Im Gegensatz zu der bewußt betonten und unbedingt geforderten Volksgemeinschaft des Nationalsozialismus dachte und lebte der mittelalterliche Mensch nur innerhalb seines Geburtsstandes. Da ihm das Bewußtsein der Volksgemeinschaft fehlte, war er auch nicht national. Schuld hieran trug auch die internationale Ausrichtung der römischen Kirche, die ja im Mittelalter das ganze öffentliche und private Leben des deutschen Menschen nach ihren Anschauungen lenkte. Dadurch erklärt es sich auch, daß damals „Standesunterschiede“ eine so große Rolle spielten. Zwischen manchen Ständen gab es Klüfte, die einfach nicht zu überbrücken waren.
Die mittelalterlichen Anschauungen haben auf diesem Boden sich über das eigentliche Mittelalter hinaus noch recht lang behauptet, z. T. ja bis in die neueste Zeit und Gegenwart hinein. Es soll ja auch heute noch Menschen geben, die keine anderen Sorgen haben, als peinlich genau auf die Beobachtung aller Standesunterschiede und Rangordnungen zu achten, damit die Welt nicht aus den Angeln geht!
Die alten deutschen Stadtverwaltungen haben es mit ihrer Fürsorge für ihre Bürger recht gut gemeint; freilich sind sie dabei auch oft zu weit gegangen. Viele deutsche Städte, besonders die norddeutschen, gaben „Sittenordnungen“ heraus, die sich auf die verschiedensten Dinge erstreckte. Hochzeits-, Kleider-, Luxus- und auch Rangordnungen. Diese Rangordnungen, vor allem die der norddeutschen Städte, sind einander ziemlich ähnlich. Selbst kleinere Orte legten großen Wert auf diese Dinge. So hatte auch Herford, das im 17. Jahrhundert doch noch eine ziemlich kleine Stadt war, seine Rangordnung. Wir wollen deshalb diese, die aus dem Jahre 1628 stammt, im folgenden (nach G. Maisch, deutsch. Bürgertum) behandeln.
Durch eine „Wohlmeintliche Stadtordnung“ hat der Rat „seiner Stadt Bürger in vier besonder Stände abgeteilet und einem jeden Gebührnis zugeordnet“. Es umfaßte „der erste Stand die Bürgermeister, Ratspersonen und Schöpfen, zusamt Doktoren und Lizentiaten; der zweite Stand die Geschlechter, deren Voreltern allda im Rathsstuhle gewesen, ingleichen vornehme Bürger und Kaufleute, wie auch die Magistros und andere, so auf hohen Schulen, ohne einen Grad zu erlangen, studieret haben, dazu aber auch die Amtmeister (d. h. die Vorsteher der Zünfte)“. Zum dritten Stand gehörten die Amtsgenossen der zwölf Ämter (Zünfte), also die Handwerksmeister, die nicht Vorsteher waren, die „kunstreichen Handwerker und dergleichen ehrsame Bürger“. Der vierte Stand endlich umfaßte „ganzen Rest der Bürger: Handwerksgesellen, Tagelöhner und Dienstleute“.
Wir lächeln heute über derartige Dinge, aber unsere Vorfahren wuchsen in solchen Anschauungen auf und maßen ihnen große Bedeutung zu. „Der Rang äußert sich bei Staatszusammenkünften und öffentlichen Feierlichkeiten, bei Krönungen, Huldigungen, Vermählungen, Beerdigungen und großen Prozessionen, beim Gehen, Sitzen, Fahren, Reiten, ingleichen bei Unterschriften und bei einer Menge anderer Gelegenheiten, wo viele Menschen sich begegnen und nebeneinander bewegen sollen. Da sich nun in unseren engen Städten ehemals solche Veranlassungen sehr häufig fanden, da die Stadtbürger innerhalb ihrer Mauern stets, täglich und stündlich in den Fall kamen, neben, vor oder hinter einander zu gehen, sitzen oder reiten zu müssen, so waren Rangordnungen für sie von ganz besonderer Wichtigkeit.“
Dr. L. Siebert, Herne.