Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt 129. Jahrgang, Nr. 49, 1. Dezember 1935, S. 1
Ein Beitrag für lebendige Familienforschung von Glaßmann jr., Wüstenbrand.
Das Tagebuchschreiben wird von den meisten Menschen mehr oder weniger als Marotte betrachtet. Wie wertvoll aber ein solches Tagebuch – besonders dann, wenn der Schreiber ein wenig mit der Feder umzugehen verstand – nicht nur für die Familie, sondern auch in heimatkundlicher Hinsicht sein kann, erfuhr ich, als mir die Aufzeichnungen meines 1839 in Annaberg geborenen Großvaters Otto Emil Haenel in die Hände kamen. Es findet sich darin so vieles, was gewiß auch die heutigen Annaberger noch interessieren wird, sodaß es wohl gerechtfertigt scheint, im Nachfolgenden einige Auszüge daraus wiederzugeben.
Das Haus Untere Badergasse Nr. 4, in welchem sich alle die auf den vergilbten Seiten niedergeschriebenen Ereignisse abspielten, steht heute noch, und wie heute war schon damals die Annaberger Kaufmannschaft durch tausend Fäden mit der weiten Welt verbunden. Da wird mit einem amerikanischen Geschäftsfreund des Vaters nach Karlsbad gefahren, da kommt ein Onkel aus London zu Besuch, da geht ein Bruder nach Hamburg in die Lehre und fast jedes Jahr bringt mehr oder weniger umfangreiche Reisen nach allen Teilen unseres Vaterlandes. Noch heute existiert in unserer Familie ein silberner Becher, der unserem Annaberger Urgroßvater Emil Chr. Haenel anläßlich seines hundertsten Besuches der Frankfurter Messe überreicht wurde. 1847 wird dieser Kammermitglied in Dresden und der Tagebuchschreiber – damals gerade zehn Jahre alt – berichtet höchst anschaulich von den Ereignissen der 48er Revolution in Dresden:
„In der Annahme, daß der Landtag sehr lange dauern würde, ließ mein Vater im April 1849 unsere ganze Familie nach Dresden kommen, wo wir in der Antonstraße ein nettes Logis bezogen. Die beiden Schwestern hatten mit den Cousinen vereint Privatstunde, ich aber ging in das Kaden’sche Institut, der schon Lehrer meines Vaters gewesen war. So ging es uns denn ganz wohl, bis der 3. Mai, ein Donnerstag, einen Zwischenfall und den Beginn einer Volksrevolution brachte. Wir wurden aus der Schule entlassen und als wir mit dieser Nachricht zu Hause ankamen, war auch schon alles Militär am Platze, der Bahnhof von Kavallerie besetzt, und als mein Vater, der schnell nach Annaberg gefahren war, am Freitag nach der Altstadt zurückkam, war er schon gezwungen, den Weg über Barrikaden zu nehmen, am Sonnabend, dem Geburtstag meines Vaters, wurde in der Stadt stark geschossen und eine provisorische Regierung eingesetzt, und unser Dienstmädchen konnte nur mit Mühe ein Paket von der Post erhalten, da die Brücke schon gesperrt war. Unsere Verwandten hatten inzwischen auch Einquartierung erhalten. In der Neustadt war es dagegen sehr ruhig, nur hörte man jetzt das immer andauernde und stärkere Schießen, so daß der Beschluß gefaßt wurde, die Familie sollte so bald als möglich Dresden verlassen, während der Vater natürlich zurückbleiben mußte. Wir reisten über Niederau nach Meißen, wo mein Bruder Arthur die Fürstenschule besuchte. Dieser besorgte uns einen dreispännigen Omnibus nach Freiberg, in dem sich zur Mitfahrt ein Bergstudent und ein junger Gelehrter zu uns gesellten. In Freiberg klang uns bei unserer Ankunft, nach 12 Uhr, Musik und Volksauflauf entgegen. Auch am nächsten Tag begegneten uns in allen Orten Kommunalgarde und in Forchheim Annaberger Freischärler. In Annaberg ankommend, wurde unser Wagen sogleich von Neugierigen bestürmt, denn auch hier war es sehr lebhaft zugegangen und die Kommunalgarde war ausgerückt. Diese Tage der Revolution sowie die Reise (fünf Kinder, eine Gouvernante, zwei Dienstleute und Zubehör) unter solchen Umständen haben auf mein Gemüt einen großen Eindruck gemacht, so daß ich alles genau im Gedächtnis behalten habe.”
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„Im Jahre 1851 zu Pfingsten fand ein vollständiges Familien-Rendezvous in Altenburg statt (eine Einrichtung, die sich in unserer Familie bis heute erhalten hat). Unsere ganze Verwandtschaft hatte nicht weniger als 8 Zimmer und den großen Speisesaal des Hotels besetzt, und wir wirtschafteten in der „Stadt Gotha”, als wäre sie unser eigen Haus. Aber dennoch fehlte es an Platz. Es waren dies zwei ewig merkwürdige Tage, so viele Glieder unserer Familie an einem dritten Ort; und wir hatten bei diesem Rendezvous manches Vergnügen.”
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„Ostern 1853 war ich konfirmiert worden und hatte anschließend mit meinem Vater und Bruder eine schöne Reise nach Teplitz und Prag gemacht. Dann aber mußte auch an eine Lehrstelle für mich gedacht werden. Und zwar erhielt ich eine durch die Zeitung. – Weihnachten 1854 erwirkte ich mir zum ersten Male die Erlaubnis, nach Hause reisen zu dürfen. Und zwar reiste ich per Eisenbahn nach Zwickau, von wo unter mehr oder weniger alten, hölzernen und lebendigen Schachteln nach Schneeberg fuhr, bis wohin mir unser Wagen entgegengeschickt war. Unterwegs mußte ich natürlich mit Zigarrenrauchen renommieren, und so kam es, daß ich gezwungen war, in Schwarzenberg Station zu machen – gegen den Kutscher angeblich, um Kaffee zu trinken. – Kein Mensch war glücklicher als ich, unsere liebe Heimatstadt Annaberg wiederzusehen; hatte ich doch schon die Nächte vorher vor Wiedersehensfreude kaum geschlafen. – Am 2. Januar 1855 reiste ich des Morgens von Annaberg mit der Post nach Schneeberg, bei einem schrecklichen Schneewetter, so daß wir vier Stunden bis nach Schlettau brauchten und bei unserer Ankunft die Postkutsche nach Schneeberg schon abgegangen war. – Ich suchte nun noch zwei Personen und fand eine Mutter mit ihrem Sohne, die mit mir zusammen eine Extra-Post nahmen.”