Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 26, 27. Juni 1926, S. 1
Aus dem Leben der Louise Zinn.
Die Woche ist zu Ende. Eine müde Greisin hat ihre kleinen Einkäufe besorgt und steht an der Wohnungstür. Die alte Frau wankt. Tastend suchen die zittrigen Hände nach einem Halt, – greifen in das Leere, – sie stürzt. Ein Schlaganfall hat hier einem rastlosen Leben voll eisernem Fleiß das Ende gesetzt. Louise Zinn, die jeder in Bärenstein kannte und hochachtete, war unerwartet von der Zeitlichkeit in die Ewigkeit abberufen worden.
Fast 80 Jahre war Louise Zinn alt geworden. Ihr Leben ist Arbeit gewesen. Sie verstand ihr Schicksal zu meistern und wurde durch dieses Schicksal zum Original, in dem sich Arbeitstreue mit einem gesunden Humor und großer Schlagfertigkeit verband. Ihre Lebensaufgabe war keine alltägliche und verdiente es, festgehalten zu werden.
Als in den 80er Jahren die Posamentenindustrie im Obererzgebirge ihren beispiellosen Aufschwung nahm, kam Louise Zinn, als Gattin eines Färbermeisters aus Barmen-Elberfeld, zu uns nach Bärenstein und versorgte, während ihr Mann seinen Beruf ausübte, ihre Häuslichkeit als echte deutsche Hausfrau, erzog ihre neun Kinder und fand auch noch Zeit zu Nebenverdienst durch die schwarze Arbeit. Leid und Freude wechselten wie in jedem menschlichen Leben. Vier ihrer Kinder mußte sie in die kühle Erde betten. Aber sie gewann diese Erde lieb, in der ihre Kinder nun ruhten, und als ihr Mann seinen Plan entwickelte, besserer Verdienstmöglichkeiten wegen mit ihr und seiner Familie nach Amerika auszuwandern, stieß er auf unüberwindlichen Widerstand. Abenteuer lagen dieser praktischen Frau nicht. Sie hatte im Obererzgebirge fest Wurzel geschlagen und wollte die Kinder, welche ihr noch geblieben waren, nicht einem ungewissen Schicksal aussetzen. So ging der Mann allein – im bösen -, denn er hat nichts wieder von sich hören lassen, trotzdem er über dem großen Wasser sein Fortkommen gefunden hatte.
Das war ein harter Schlag für Frau Louise und ihre Kinderschar. Aber voll Mut, Energie und Gottvertrauen ging die brave Frau ans Werk, um Brot auf den Tisch zu schaffen, sauer aber ehrlich verdientes Brot. Zu stolz, um Almosen bei der Gemeinde zu erbitten, gründete sie sich und ihren Kindern eine neue Existenz. „Da galt’s 5 Kinder zu ernähren, sie griff es an mit heitrem Mut, sie zog sie auf in Zucht und Ehren, der Fleiß, die Arbeit war ihr Gut.”
Die damalige Haltestelle Bärenstein erhielt durch den Aufschwung der heimischen Posamenten-Industrie Güterverkehr und brauchte einen Bahnhofsspediteur. Auch im Orte wurde ein Spediteur benötigt. Das erkannte der praktische Sinn dieser Frau.
Wer beschreibt das Erstaunen des Bahnhofspersonals, als auf einmal die vom Manne verlassene Frau Louise Zinn mit einem Hundegespann erschien und sich als „Bahnhofsspediteur” vorstellte.
Für die damaligen Verhältnisse war ein selbständiger Frauenberuf etwas Außergewöhnliches. Das Außergewöhnliche erfuhr noch eine Steigerung durch den praktischen Anzug, den sich die tüchtige Frau zusammenstellte.
Die harte Naturnotwendigkeit, der Kampf um das Dasein zwang die mutige Frau, fast vollständig als „Mannsen” gekleidet zu gehen. Nur der Frauenrock allein kennzeichnete den „Spediteur von Bärenstein” als zum weiblichen Geschlecht gehörig. Der meterhohe Schnee und die strenge Kälte der damaligen Winter konnte nur mit hohen „Mannsenstiefeln”, mit Röhrenstiefeln, bewältigt werden, um die der lange nasse Weiberrock im Regen ruhig klatschen konnte. Über der „Mannsenjacke” trug sie das starke Schurzfell mit Kreuzriemen über Brust und Rücken, wie es Bierfahrer und Rollkutscher tragen. Die damals schon weißen Haare kamen zu einem einfachen Knoten verschlungen unter den Strohhut oder einen anderen breiten Hut im Sommer, im Winter unter eine Schneehaube. Eine tüchtige Peitsche in der Hand, die energisch durch die Luft sauste, vervollständigten den „Mannsenanzug” beim Hundewagen und kurze Zeit danach, als das „Geschäft blühte”, am Rollwagen mit Pferd, wie wir die wackere Frau auf dem Bilde sehen, welches 1895 vom Ortsphotographen Julius Müller im Hofe von Oberbärenstein Nr. 3 aufgenommen wurde und welches das einzigste geblieben, zu welchem Louise Zinn stand.
Das Erstaunen des Bahnhofspersonals, der Reisenden und Bärensteiner steigerte sich zur Sprachlosigkeit, als die bis dahin als einfache Hausfrau bekannte spielend wie eine Feder mehrere Zentner schweres Frachtgut allein auf ihren breiten Rücken lud, auf ihren Wagen schleppte und ebenso im Ort wieder ablud, gleichviel, ob im Erdgeschoß oder auf dem Boden eines Hauses. Sie entwickelte tatsächlich „Riesenkräfte” und stellte manche Männer in den Schatten. An Aufträgen fehlte es von nun an der wackeren Frau nicht, die pünktlich und mit größter Gewissenhaftigkeit ausgeführt wurden.
Der Dienst als Spediteur auf dem Bahnhofe, die ungewöhnliche Kleidung, ihr derbes Wesen und ihr Humor machten in kurzer Zeit die „Louise” zum Bärensteiner Original, zu einer Berühmtheit, aber auch zu einer Respektsperson. Die Reisenden rissen die Fenster des Zuges auf, um die mutige Frau zu begrüßen. „Guten Tag, Frau Spediteur, wie geht es Ihnen und Ihren Kindern?” rief man ihr zu, freute sich ihres kernigen Wesens und über ihre treffenden Antworten, mit denen sie die Spötter abfertigte. Hänselten sie die Männer aus dem Orte zu sehr, dann konnte sie sehr ungemütlich werden.
Schämt Euch, Ihr traurigen Kerle, vor einer Frau! pflegte sie dann zu sagen. Ihre seltene Körperkraft verschuf ihr den nötigen Respekt und sie scheute sich nicht, gelegentlich ihre Fäuste oder die Peitsche zu gebrauchen, um sich durchzusetzen. Und sie setzte sich durch! Wehe dem Spötter, den sie sich einmal energisch vornahm.
Das Geschäft als Fuhrmann, die Beschwerden des Fuhrwesens bei schlechtem Wetter hatten mit Naturnotwendigkeit zur Folge, daß sich die bis dahin ruhig lebende Frau eine raue Art angewöhnte. Brachte es das Geschäft mit sich, daß man ihr bei Kälte einen Grog oder Schnaps, im Sommer ein Bier anbot, so schlug sie es nicht ab. Selbst kaufte sie sich nie Getränke. Saß sie aber, die Peitsche zwischen den Knien, mit am Wirtshaustisch, so stand sie auch dort ihren Mann und sagte den „Mannsen” tüchtigen Bescheid. Mit ihrem Humor, nötigenfalls auch mit gediegener Grobheit verstand sie jede Hänselei über ihre Kleidung abzuwenden. Wurde es ihr zu bunt, diente sie mit einer Auswahl zoologischer Kosenamen, die sie sich in ihrem Berufe im Kampf um das Dasein angewöhnt hatte. Das war bekannt und gern fing man es manchmal direkt darauf an, daß sie sacksiedegrob wurde.
Es konnte nicht ausbleiben, daß Louise Zinn durch die jahrelange schwere Arbeit in Wind und Wetter sich Rheumatismus zuzog und später auch ein Augenleiden. Die Riesenkräfte erlahmten, allerdings erst nach vielen Jahren. Sie hielt sich später einen Geschirrführer. Zu Anfang ihrer Spediteurzeit waren der stattlichen Frau viele Heiratsanträge gemacht worden, als sie von ihrem Manne wegen böswilligen Verlassens geschieden worden war. Davon wollte sie aber nichts wissen: „sie habe an ihrem eigenen „Mannsen” gerade genug erlebt und wolle von allen übrigen „Mannsen” überhaupt nichts mehr wissen!” Mit berechtigtem Stolze blickte Frau Zinn auf ihre Spediteurzeit zurück und zeigte dem Verfasser dieser Zeilen öfter das in ihrer Küche hängende Spediteurbild. Die letzten beiden Jahrzehnte lebte die Frau in stiller Zurückgezogenheit von ihren Ersparnissen, bis die Inflation ihr die sauer ersparten Groschen aus der Hand nahm. Ihre Kinder unterstützten sie gern, waren diese doch durch sie zu tüchtigen Menschen erzogen worden. Aber sie legte die Hände nicht in den Schoß und sah zu, daß sie durch Stricken von Strümpfen sich durchschlagen konnte. Als ihr Augenleiden vor einigen Jahren ihr auch diesen Erwerbszweig nahm, lud man die nun am Stocke gehende Greisin mit der großen Brille in die Häuser der ehemaligen Kunden und bewirtete sie gern und freundlich.
Ihr heiterer Sinn war ihr bis zuletzt geblieben. Gern ging sie noch auf einen Spaß ein. Überall war die wackere Frau gern gesehen, weil man sie hochachtete.
So erfüllte auch ihr Ableben die Bärensteiner mit aufrichtiger Trauer und trotz des strömenden Regens wurde ihr ein zahlreiches ehrendes Trauergeleit. Zahlreiche Kranzspenden bezeugten die Liebe und Hochachtung, deren sich die brave Frau erfreuen durfte.
Nun ruht sie in der erzgebirgischen Erde, in der ihr Leben so fest Wurzel geschlagen hatte. Ihr Gedächtnis wird erhalten bleiben und diese Zeilen sollen mit dazu beitragen, daß ihr wirklich vorbildliches Wesen in weiteren Kreisen bekannt wird als leuchtendes Beispiel deutscher Muttertreue, deutschen Mutes und deutscher Kraft.
Otto Bauer, Bärenstein.